Von Stieren, Shivas „Fahrzeug“ Nandi, an der Ecke Pagoda Street/South Bridge Road begrüßt zu werden, ist allemal besser, als von einem christlichen Foltergerät. Früher wollte ich immer nach Indien, das lag Ende der 60er in der Luft. Ein Indien, das George Harrison importiert hatte, mit Sitar-Musik und glutäugigen Wasser-Nymphen, die auf umwerfend schönen Gemälden laszive Posen einnahmen und sinnliche Wonnen versprachen. Eine bunte, geheimnisvolle Welt, in der sich alles in Zeitlupe bewegte. Die Musik schien wie geschaffen für den Soma-, Haschisch- oder LSD-Rausch. Nach und nach wurden auch meditativere Stücke angeboten, als die von Ravi Shankar, der sich nach einem wunderbar zähen Vorspiel immer in einen Orgasmus rattern mußte.
Da stand ich nun mal wieder vor dem, für die Tempel Südindiens typischen Gorupa, dem figurenüberwachsenen Torturm des 1827 gegründeten Sri Mariamman mit seinem überreichlichen hinduistischen Pantheon und drückte den Kopf in den Nacken. Am liebsten hätte ich mich mitten auf die South Bridge Road gestellt, um das Gewimmel besser überblicken zu können. Da ich weder der Kaste der Shudras (Arbeiter) angehöre noch unberührbar bin, ging ich diesmal rein – nicht ohne vorher meine Schuhe in einem Regal rechts neben dem Tor hinterlassen zu haben – denn die Rezitationen eines bemalten Priesters (waagrecht für Shiva, senkrecht für Vishnu), im den Tempel umgebenden Hof, zogen mich hinein. Zum Glück schmiß gerade niemand mit Kokos-Nüssen, wie ich es mal in einem kleineren Hindu-Tempel in der Nähe beobachtet hatte, und was eine ziemliche Sauerei ergab.
Den Hinduismus selbst, für den die indische Sprache nicht die Bezeichnung „Religion“ kenne, weil nicht zwischen relgiös und nicht-religiös unterschieden werde, sehe ich eher als wirr und primitiv. Doch was für eine attraktive Kultur! Besonders die balinesische Variante, die sich deutlich von der indischen unterscheidet, ist optisch faszinierend. Schon an der Schrägstellung des Tors zur Straße erkennt man die strenge Ausrichtung des Tempels auf die Ost-West-Achse. Das relativ kleine Hauptgebäude besteht aus einer offenen, dreischiffigen Pfeilerhalle mit unspektakulärer Deckenhöhe. Das Mittelschiff besitzt ein Tonnengewölbe, im Westen ein geschlossenes Sanktuarium, in das kein Tageslicht dringen darf, und mit Kuppeln überkrönte Apsiden. Hier befindet sich an der Nordseite auch ein zusätzlicher Anbau. Das Dach zeigt ein Gewimmel von fein bemalten Stuckfiguren in Bedeutungsperspektive, deren phantastischer Naturalismus nicht als bloße Abbilder sondern als Verdeutlichung von Wahrheit verstanden wird. Der hinduistische Tempel stellt in seiner Ikonometrie und Ikonographie eine Nachbildung des Universums dar, in dem Avatare der Götter zu den Menschen vom heiligen Berg Meru herabsteigen und nach Belieben unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen. Aravan, zuständig für Krankheit, Schwangerschaft und abstehende Ohren, hat dabei sogar seinen Kopf verloren. Dagegen schützt Frau Periyachi Kinder, wenn sie nich gerade Därme frißt oder auf Männern rumtrampelt, die Frauen mißbrauchen.
Der Inder an der Kasse schien jedoch nich alle Shivas im Regal zu haben. Der Eintritt ist frei, das Fotografieren muß bezahlt werden. Also legte ich ihm dafür Singapore-Dollars auf den Tisch, die er jedoch erst annahm, als ich ihm meine Camera zeigte. Während ich danach den Tempel zirkumambulierte, kam er zu mir und wollte Geld für das Fotografieren. Ich zeigte ihm die Quittung, die er gerade ausgestellt hatte, und er zog murmelnd davon. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde nun von zwei Musikern beansprucht, die sich vorbereiteten, den zahlreichen Göttern in verschiedenen Nischen Ständchen zu bringen, denn Musik und Tanz sind wesentliche Elemente der Tempel-Rituale. Da war sie nun, die Musik Harrisons, zum ersten Male live im passenden Ambiente. Die Töne der Nadaswaram sind gewöhnungsbedürftig und mit der Oboe vergleichbar. Man sollte sie besser nicht mit quäkenden Laptop-Lautsprechern anhören. Der Trommler hatte eine konische Thavil umgehängt, die 2 Felle besitzt. Das kleinere schlug er mit einem Stab, das größere bearbeitete er mit der Hand. Seinen Fingern hatte er Metallkappen übergestülpt. Erst nach einer Weile bemerkte ich, daß der Vortrag der beiden von den meditativ gleichmäßigen Sinus-Schwingungen einer nicht vorhandenen Tambura begleitet wurde. Diese kamen aus einem Kästchen, das offensichtlich einen Akku besitzt. Diese Inder! Mobile Musik-Elektronik als „Drone-Sound“. Solch ein Kästchen hätte ich auch gerne.
Die Musik, die in der hallenden Akustik des Tempels perfekt zur Wirkung kam, zog mich so in ihren Bann, daß ich ganz vergaß, die sehr sorgfältig ausgeführten Deckenmalereien zu betrachten. Jene bemerkte ich erst auf den Fotos. U.a. übersah ich das Schri-Yantra, das mich schon mal auf einem LSD-Trip aufgesogen hatte. Damals glaubte ich, das alles ganz intuitiv verstanden zu haben. Wieder nüchtern, ist Indien dann doch wesentlich komplizierter und stellenweise unangenehm, und viele Inder wollen da offensichtlich raus.
Bezahlt wurden die Musiker und der sich an ihre Darbietung anschließende Umzug um den Tempel – zusammen mit einem Priester, dem Träger des heiligen Schirms, einem Feuer- und einem Opfergaben-Träger – anscheinend von einer fetten Frau im dekorativen Sari. Indische Matronen sind oft ziemlich dick und ihre traditionell bauchfreie Kleidung nicht gerade vorteilhaft. Ein Grund, warum ich doch lieber keine Inderin geheiratet habe. Außerdem kannte ich gar keine. Auf jeden Fall sorgt solch ein Tempel für alle Eventualitäten. So fand ich in der Ecke an der Nordseite einen Shiva-Linga mit Ablauftülle für geopferten Butterschmalz und Milch, wie er auch im National Museum Jakarta zu umarmen ist. Das nächste Mal bringe ich gleich eine Flasche Soja-Milch mit.
Wieder draußen, war ich doch froh, daß meine Schuhe noch auf mich warteten.
Eigenartigerweise bekam meine Frau 1975 einen ganz anderen Eindruck vom Sri Mariamman: den eines heruntergekommenen Tempels mit rot bespucktem Fußboden und miesem Publikum. Und selbst vor einigen Jahren konnte man noch am Dreck erkennen, wo „Little India“ beginnt.