Leben ohne Rituale

Nudelnsw

Der Salon ist zu weit von der Küche und der Werkstatt entfernt. Das Mittagessen ist gewöhnlich auch nur die Parabel eines Mittagessens. Fast muß man glauben, daß nur der Wilde nahe genug bei der Natur und der Wahrheit wohnt, um Tropen von ihnen entleihen zu dürfen.“
Henry David Thoreau, „Walden“, 1854
Tropus = griechisch „Wendung“, Schmuck durch Vertauschung des eigentlichen Ausdrucks mit dem uneigentlichen, bildlichen

Wir sind bestimmte, vorübergehend erkennbare Bewegungsmuster in einem Strom, der in Form von Licht, Wärme, Luft, Wasser, Milch, Brot, Obst, Bier, Beef Stroganow, Kaviar und Pâté de foie gras in uns eingeht. Heraus geht er als Gas und Exkrement – und auch als Samen, Säugling, Rede, Politik, Handel, Krieg, Dichtung und Musik. Und Philosophie.“
Alan W. Watts, „Mord in der Küche“, 1968

Anders als bei Watts gibt es da von vornherein einige der aufgezählten Dinge, die in mich nich hineingehen, unter denen ich mir nich ma was vorstellen kann. Gemeinsam habe ich mit ihm jedoch die intellektuelle Tölpelhaftichkeit, mit der ich üba das staune, was angeblich vernünftige Leute für selbstverständlich halten, und mit der ich die einfachsten Tatsachen des Lebens unglaublich seltsam finde. Laut Aristoteles stehe ja am Anfang der Philosophie das Staunen. Zum Bleistift üba die Ästhetisierung und Verkomplizierung des Essens, die bei genauerer Betrachtung gegenseitiges Abschlachten und Einverleiben nich vollständich verklären können. Watts war sogar der Ansicht, daß die Raubgier des Menschen die von Heuschrecken und Piranhas übertreffe. Dabei stellt sich die vegetarische Lebensweise nur als Ausflucht und wiederum rituelle Geste der Hochachtung für alles Lebendige dar, denn sie ändert nix daran, wie wir vom Töten leben. Pflanzen schreien nur nich so laut. Doch den Todes-Kampf einer Kreatur, „die von ihrem reuigen Henker nur halb enthauptet wird“, brauch ich mir nich vorzustellen. Das habe ich gerade gesehen.
Ich befinde mich aktuell in einer Phase meiner Ehe, wo mir Verhaltensweisen vorgeworfen werden, die ich vor Jahrzehnten gezeigt hab, ohne daß ich mich an das Vorgefallene noch erinnern könnte. Doch stimmt es schon: Wenn bei Besuch plötzlich sonst nie benutzte Stoff-Servietten auf dem Tisch lagen („Feintun“, Modell „Gute Stube“), werde ich sicher offen gefragt haben, was ich damit anfangen soll. Li T’ieh-kuai hätte sich auch drüber lustich gemacht. Ich war und bin nun mal der Wilde, der seine bürgerliche Konditionierung weitgehend erfolgreich abgestreift hat. Dagegen zog es meine Frau, deren Stamm noch imma mit den Fingern ißt (entsprechend sehen hinterher die Tische aus), zur westlichen Lebensweise. Vermutlich haben wir uns irgendwo in der Mitte getroffen. Wie hätten wir sonst 40 Jahre miteinander ausgehalten? Wenn ich auch inzwischen nich mehr so extrem bin, daß ich einer Freundin ins Spiegelei pieke und dafür aus dem Restaurant geworfen werde, so sind doch imma noch Rückfälle möchlich. Zum Bleistift behebe ich das ewige Wackeln der Tische in der „Pizza Hut“ Manado, in dem ich eine Serviette unta ein Tischbein klemme. Das Problem mit mir iss, daß ich mit meiner Anspruchlosigkeit zu anspruchsvoll bin. So hatte ich nie etwas grundsätzlich gegen Mensa- oder Flugzeug-Nahrung, weil ich nich Essen studierte und nich flog, um zu essen. Was könnte freiheitlicher sein als eine heiße Currywurst mit Senf an einem zugich-kalten Stand auf einem Supermarkt-Parkplatz, verglichen mit dem geierhaften Verhalten von Bedienungs-Personal in Luxus-Restaurants. Eine dieser Hyänen hat mir sogar mal die Serviette mit mütterlicher Aufdringlichkeit auf dem Schoß ausgebreitet. Bei sowas vergeht mit sofort der Appetit, weil ich mich vergewalticht fühle. In Philadelphia wurde ich zurückbeordert, weil ich es gewagt hatte, mir in einem Restaurant selber den Platz zu wählen. Da halte ich mich doch lieber in den Fastfood-Buden San Franciscos auf, wo man zwischen Drogen-Süchtigen, Wahnsinnigen, Schwulen und alternden Blondinen noch auf unverfälschtes Leben trifft. Und du brauchst nur die Teller- und Portions-Größen in Indonesien, D und den USA vergleichen, dann weißt du, was an Verfettung der Gesellschaft auf die Indonesier zukommt, die in den USA schon erreicht iss. Folge eines ausgeklügelt überbewerteten Kults der Nahrungs-Aufnahme. Ich hoffe doch, daß die Zeiten vorbei sind, wo ein komplettes Silber-Besteck mit Gravur (praktisch bei Scheidung) zur bürgerlichen Aussteuer gehörte. Mit Buttamesser, Zuckazange, Serviettenringen, Messer-Ablagen und sonstigem Schnickschnack. Bevor ich meine Frau kennenlernte, hatte ich als Waldschrat meine Eßwerkzeuge auf Mönchisches reduziert: 1 hölzerne Schale, Eß-Stäbchen, Suppenlöffel und Teebecher. Der Löffel war schon Luxus, der Abwasch leicht. Eier schlürfte ich gleich roh. Das gibt Zeit für Wesentlicheres und hypnotisiert nich durch Symbole. Ich bin auch noch nie auf die Idee gekommen, irgendeinem phantasierten Gott für meine selbst produzierten Nahrungsmittel zu danken. Dagegen war Watts der Ansicht, daß wirkliche Kultur ein anspruchsvolles Angebot in allen Lebenskünsten böte: „Landbau, Kochen, Dinieren, Sich-Kleiden, Sich-Einrichten und Sich-Lieben“. Meiner Ansicht nach sollte zwischen den Ritualen, die van Gogh in seiner mäßigen Darstellung der „Kartoffelesser“ und der Film „The Charge of the Light Brigade“ (1968) zeigen, wo einmal alle gleich aus der Schüssel essen, und andererseits schon eine falsche Flasche auf der Tafel gesellschaftlichen Skandal verursacht, ein schlicht-angenehmer Kompromiß zu finden sein. Zwischen schmutzig-vulgär und dem theatermäßigen Auftritt feiner „Damen und Herren, die nicht töten, ackern, kochen, waschen, scheißen oder vögeln“, müßten maskenlose Verhaltens-Formen lebendiger Wesen möglich sein. Picasso soll sein frugales Mahl ohne Bestecke auf einem Atelier-Tisch verzehrt haben, und Alberto Giacometti nahm manchmal 48Std. nichts zu sich, weil er so in die Arbeit an seinen stark verhungerten Figuren vertieft war. Dagegen tafelte Thomas Mann, der „chronische Villenbesitzer“, wie er wohnte. Und so schrieb er auch.
Ich bin mit mir übereingekommen, daß ich mich, falls ich ein Alter von siebzig Jahren erreichen sollte, auf einen Berghang in der Nähe des Meeres zurückziehen und einen kleinen Kräutergarten bestellen werde – Küchengewächse, Heilkräuter und psychedelische Pflanzen … auf langen Regalen Gläser und Flaschen mit Bittersüß und Indischer Narde, Ginseng und Aloeholz, Männertreu, Mandragora und Cannabis, Poleiminze, Andorn und Mädesüß … Auch eine alchimistische Küchenwerkstatt mit Bibliothek will ich da haben, und wenn mich die Welt zu hart bedrängt, wird meine Frau unerwünschten Besuch abweisen mit den Worten aus Chia Taos Gedicht ‚Vergebliche Suche nach dem Einsiedler:

Der Meister ging allein
Kräuter sammeln am Berg,
Wolkenverloren, keiner weiß wo.’“

Stattdessen soff sich Zen-Meister Watts (1915-73) mit 58 zu Tode. „Lebenskunst“?

LiTiehkuai

Zhang Lu (1464-1538), „Li T’ieh-kuai“

Splatter-Food

splatterfood

Die Gourmet-Szene ist an sich schon Ausdruck falschen Lebens. Wie alle Süchte verlangt sie eine Steigerung von Frequenz und Quantität, weil Reize nun mal die Angewohnheit haben, abzunehmen, während die Körpermasse das Gegenteil tut. Wenn in der indonesischen Zeitung „Kompas“ dieses Beispiel von Splatter-Food gezeigt wird, überrascht mich nicht dessen Unappetitlichkeit, sondern daß es sich dabei um französische „Haut Cuisine“ handeln soll. Hier hat man auch die Neigung, 1 Tier zu zerhacken, wie das Beil gerade so fällt, und einem die Splitter zu servieren. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Perversion der Nahrungsaufnahme sondern um die übliche Schlampigkeit. Dagegen soll einen im Beispiel der französischen Eß-thetik nicht das große Kotzen überkommen, sondern kulturelle Freude am künstlichen Leben. Da bleibe ich doch lieber bei meinen Nudel-Suppen, die mir auch das affige Getue der Ober in mehr oder weniger verkitschten Räumen ersparen.

Die Kunst des Kauens

Pappziege

Das Beste an Paul Spooners „Park der Stille“ iss, daß er still iss. So brüllt auch seine zusammenzubastelnde Papp-Ziege keinen Ton – ganz im Gegensatz zu meinem jungen Bock, der das 3Std. lang kann. Andererseits würde ich eventuell mit ihm im Zirkus auftreten, denn er apportiert inzwischen seinen Freßnapf und bekommt dafür Extra-Portionen. Spooners Ziege kaut dagegen nur mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems aus Fadenzug und Paddel-Bewegung. Völlich berechtigt weist er uns nicht nur mit seiner „Hochzeitstorte“ darauf hin, wie sich unser ganzer Lebensstil von Grund auf ändern würde, sollten wir uns plötzlich in 1 Ziege verwandeln – was imma noch bessa iss, denn als Schaf wiedageboren zu werden, oda hamse schon ma n Schaf im Zirkus gesehen (außer im Publikum)? Wie dem auch sei, es wird gekaut, sogar wieder und das mittels systematischer Hin- und Herbewegung des Untakiefers. Etwa so:

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Dieses rhythmische Mahlen führt dazu, daß der Verstand völlich leergefegt wird, was auch beim menschlichen Eßverhalten zu beobachten iss. Ein Effekt, der von den Entspannungs-Kursen in den Volkshochschulen noch viel zu wenich beachtet wird. Drückt es doch eine Gelassenheit aus, um die man Ziegen geradezu beneiden kann. Spooners Idee, jene Ziege Wärmflaschen fressen zu lassen, müssen wir jedoch als intellektueller Ziegenzüchter energisch zurückweisen. Sie versuchen es zwar imma wieda mit meinen Gummistiefeln, merken aba auf Grund einer gewissen Intelligenz, daß mein schweißiges Hemd bessa schmeckt und auch gesünder iss. Hier geben wir ihr jedoch Gras, wie sich das gehört, was viel übazeugender wirkt, als Spooners hoffnungsloser „Ameisenbär“.

gekaut

Auch halte ich Spooners Idee, Ziegen Klavier spielen zu lassen, für geschmacklos. Tamburin oder Triangel, ja, aba kein Klavier. Nee, nee!